Vicente Aleixandre

Der Dichter Vicente Aleixandre ist einer von zwei andalusischen Preisträgern des Nobelpreises für Literatur. Trotz dieser hohen Auszeichnung ist Aleixandre in Deutschland weitgehend unbekannt. Wer sich für spanische Lyrik interessiert, kommt an Aleixandre natürlich nicht vorbei. Daher hier ein kurzes Porträt des Nobelpreisträgers.
Vicente Aleixandre
Büste von Vicente Aleixandre in Madrid ( Foto: siehe Textende )

Leben und Werk von Vicente Aleixandre

Vicente Aleixandre wird 1898 in Sevilla als Sohn eines Ingenieurs geboren, der für verschiedene private spanische Eisenbahnunternehmen tätig ist. Vicente verbringt seine Kindheit in Málaga, das er später als „Stadt des Paradises“ besingt. 1909 zieht die Familie um nach Madrid. Dort ist er auch 13. Dezember 1984 gestorben.

Eigentlich soll er Ingenieur werden wie sein Vater, aber seine Schwäche in Mathematik erlaubt das nicht. So studiert er Jura und BWL. Im Urlaub lernt er den gleichaltrigen Studenten Damaso Alonso kennen, der wegen Kurzsichtigkeit nicht Ingenieur werden konnte und der Aleixandres Interesse für Lyrik weckt.

Zunächst wird Aleixandre Lehrer für Handelsrecht und wechselt dann in die Eisenbahnverwaltung, wo er ein Gutachten für die Altersversorgung des Bahnpersonals erstellt. Im Alter von 27 Jahren beendet eine schwere Nierentuberkulose abrupt diese bürgerliche Laufbahn. Der trostlosen Lage entflieht Aleixandre in die Poesie. Er schließt sich der Künstlergruppe „Generation von 27“ an, deren bekannteste Köpfe der andalusische Dichter Federico García Lorca und der Filmemacher Luis Buñuel sind. Der Name der Gruppe soll an den 300. Todestag des spanischen Dichters Luis de Góngoras erinnern, der am 24. Mai 1627 verstarb. Markenzeichen der Gruppe sind der Surrealismus und die Abkehr von Reimen in der Dichtung. Aleixandres Gedichtband Pasión de la tierra (Leidenschaft zur Erde) ist das Buch, welches dem Surrealismus am nächsten kommt.

Ein nettes Beispiel für Aleixandres surrealistische Poesie ist das Gedicht Walzer. Hier ein Ausschnitt:

„Die Damen erwarten ihren Augenblick, sitzend auf einer Träne,
Die Feuchtigkeit verhehlend kraft eines unermüdlichen Fächers.
Und die Herren, verlassen von ihren Hintern,
wollen gewaltsam alle Blicke auf ihre Schnurrbärte ziehen.
Aber der Walzer ist gekommen.“

Aleixandre ist bald von Kirkegaard beeinflusst, der gesagt hat „Ohne Liebe ist alles, was uns bleibt, Zerstörung.“ Einer der bekanntesten Gedichtsammlungen Aleixandres aus dem Jahr 1932 heißt daher Die Zerstörung oder die Liebe (La destruccion o el amor). Passender wäre gewesen: Die Zerstörung UND die Liebe, denn es geht fortwährend darum, dass Liebe gleichzeitig Zerstörung bedeutet. 1933 erhält Aleixandre für diesen Gedichtband den spanischen Nationalpreis für Literatur

Hier ein Auszug aus dem Gedicht Morgen werde ich nicht leben:

„Deine Flügel wie Arme,
liebende Beharrlichkeit in dieser Luft, die mein ist,
sie schaffen fast Wangen oder Flaumkissen oder Landung,
rüttelnd, während ich die Zähne hinter deinen Lippen vergesse.“

Sowie ein Auszug aus dem Gedicht Menschliche Stimme:

„Es schmerzt die trügerische Wespe,
die manchmal unter der linken Brustwarze ein Herz nachahmt oder einen Pulsschlag,
gelb wie der unberührte Schwefel oder die Hände des Toten, den wir liebten.“

Den Gräueln des Spanischen Bürgerkriegs begegnet er mit Abscheu. Er lässt sich für keine Seite vereinnahmen. Mit „Konfessionen, Programmen und sozialfrommem Wunschdenken“ kann er nichts anfangen. Am Ende des Krieges sind die Mitglieder von „Generation von 27“ entweder tot oder emigriert. Nur Aleixandre muss als Schwerkranker in Spanien ausharren. Zu Beginn der siegreichen Franco Diktatur muss er im Untergrund publizieren, feiert aber in Südamerika bereits Erfolge. 1949 wird er in die Real Academia Espanola aufgenommen.

Allmählich interessiert sich Aleixandre für den Menschen als Element des Kosmos. Liebe ist nun Selbstzerstörung und damit eine dem Menschen angeborene Sehnsucht, wieder in die Ordnung der Welt aufgenommen zu werden. Erst mit dem Tod gewinnt das Leben seine wahre Bedeutung: „Der Tod ist die letzte Geburt“. So heißt auch ein weiterer Gedichtband, den er 1952 veröffentlicht. Aleixandre versteigt sich zu den paradoxen Aussagen.

„Solange der Mensch lebt, ist er ungeboren“.
„Nicht wissen ist leben. Wissen, es zu Tode zu bringen“.
„Die Würde des Menschen ist in seinem Tod“

Hier eine Kostprobe aus dem Gedicht Komm immer, komm (Auszug):

„Nähere dich nicht, denn dein Kuß weitet sich, wird wie der unmögliche Zusammenprall der Sterne, wie der Weltraum, der plötzlich in Brand gerät, flammenverbreitender Äther, wo die Zerstörung der Welten ein einziges Herz ist, das in Glut sich gänzlich verzehrt.

Komm, komm, komm wie die erloschene, dunkle Kohle, die in sich einen Tod birgt;
komm wie die blinde Nacht, die ihr Gesicht mir nähert;
komm wie die zwei Lippen, hervorgehoben durch das Rot,
durch diese langgeschwungene Linie, welche die Metalle verschmilzt“

In den 1968 veröffentlichten Gedichten vom Ende (Poemas de la conumación) überrascht der Siebzigjährige mit einem neuen Stil. Die Sprache wird karg und spröde. In dem 1974 erschienenen Werk Diálogos del conocimiento (Dialoge der Erkenntnis) werden in fiktiven Zwiegesprächen zwischen zwei Personen jeweils zwei konträre menschliche Daseinsweisen vorgestellt. Für Aleixandre gibt es jetzt in der Dichtung keine hässlichen oder hübschen Wörter, sondern nur lebendige und tote Wörter. Er selbst fühlt sich im Besitz des lebendigen Worts.

Hier Auszüge aus dem Gedicht Zwiegespräch des Erkennens, bei dem es um den Dialog zwischen einem Soldaten und einem Hexer geht:

Der Soldat: „Käme doch jemand…Ich kann nicht sprechen. Kann nicht schreien. War jung und sah mich um, brannte, berührte, klang. Der Mensch klingt. Aber stumm sterb ich.
Die Sterne hier sind erloschen, weil meine Augen sie nicht mehr erkennen. Nur die Luft in der Brust klingt. Das Keuchen in mir atmet durch die Wunde wie durch einen Mund. Unnützer Mund. Gerade erst geworden und gemacht nur, um zu sterben.“

Der Hexer: „Der Krieg war, weil er immer noch ist. Es irren die, die ihm Namen geben.
Diese taugen nichts und sind nur Worte, die dich fortreißen, Schattenstaub, Pulverdampf,
Mensch, der hinter seinem Nichts wie eine tote Idee ist.
Wo ist das Bilsenkraut deines Traums, Schlaftrunk, da alles gestorben ist und ich nur sehe, wie das Licht denkt? Nein, es gibt kein Leben, nur dies Denken, in welchem ich ende:
Der Gedanke des menschlichen Lichts.“

Die Zuerkennung des Literatur-Nobelpreises 1977 an den 79-jährigen Spanier ist für die Fachwelt eine Überraschung. Aleixandre setzt sich immerhin gegen so potente Mitbewerber wie Graham Greene, Nadine Gordimer, Max Frisch und Günter Grass durch. Außerdem ist man damals der Meinung, der Nobelpreis müsse endlich einmal an einen Literaten aus Afrika gehen.

Diesem Ansinnen setzt die Mehrheit des Nobelpreiskomitees entgegen, der Nobelpreis sei nun einmal abendländisch und könne nur nach abendländischen Kriterien vergeben werden. Dazu zähle, dass nicht die Person des Autors Gegenstand der Beurteilung sein solle, sondern das Werk. Daher spiele auch das Alter des Autors keine Rolle. Für die Wahl Aleixandres spreche, dass es sich um einen Poeten handle, der im doppelten Sinn des Wortes „überlebt“ habe. Aleixandre habe nicht nur seine Krankheit erfolgreich überwunden, sondern auch das erstickendes Kulturklima der Franco-Era. Er sei ein Wortführer der verlorenen Generation Spaniens. Der Preis sei eine Verneigung vor dem „zweiten goldenen Zeitalter der spanischen Poesie“. Also doch eher der Autor und das Land, und nicht das Werk?

Da Aleixandre für die Reise nach Stockholm zu gebrechlich ist, schickt er seinen Lieblingsschüler Justo Jorge Padrón zur Nobelpreis-Verleihung.

Ein Kriterium für die Wahl Aleixandres ist sicher die Tatsache, dass sich der Stil des Autors zeitlebens immer wieder gewandelt hat

Anmerkungen zur Poesie von Vicente Aleixandre

Im Gedicht Für wen ich schreibe erklärt Aleixandre (in Auszügen):

„Ich schreibe nicht für den Herrn im geschniegelten Sakko, nicht für seinen gereizten Schnurrbart, nicht einmal für seinen mahnend erhobenen Zeigefinger zwischen den traurigen Wellen von Musik

Ich schreibe vielleicht für die, die mich gar nicht lesen. Diese Frau, die durch die Straße läuft, als eilte sie, um der Morgenröte die Tür zu öffnen.

Für alle, die mich nicht lesen, die sich nicht kümmern um mich, aber doch für mich sorgen (obwohl sie mich nicht kennen).

Aber ich schreibe auch für den Mörder. Für den, der mit geschlossenen Augen sich auf eine Brust stürzte und Tod aß und sich nährte, und im Wahnsinn aufstand.

Für den Drohenden und für den Bedrohten, für den Guten und den Traurigen, für die Stimme ohne Stofflichkeit und für allen Stoff der Welt.“

Was ist für Aleixandre „Liebe“? Im Gedicht Der Pillendreher beschreibt er es so:

„Die Liebe wie eine Zahl
Ist bald Wasser, das aus einem gestürzten Mund rinnt, bald das Geheimnis des Grüns in dem Gehör, das es einsperrt,
bald der reglose Straßengraben, der alles enthält,
sogar den Haß, der abflaut, um sich zum Traum zu verwandeln.“

Im Gedicht Der Adler beschreibt Aleixandre, was „Glück“ sei:

„Es naht der Augenblick, wo das Glück darin besteht,
die menschlichen Körper der Haut zu entkleiden,
wo das sieghafte Himmelsauge die Erde nur als Blut sieht, das kreist.“

Den „Tod“ beschreibt er im Gedicht Nackter Leib so:

„Der Tod ist die Kleidung,
Er ist die Anhäufung der Jahrhunderte, die niemals vergessen werden,
er ist das Gedächtnis der Menschen, lastend auf einem einzigen Körper,
greifbarer Lappen, über dem eine Brust schluchzt,
während sie hilflos eine Liebe sucht oder den nackten Leib.“

Aleixandres Gedichte sind anfangs durchaus interessant und überraschend. Aber wenn sich alle Gedichte auf den ersten 220 Seiten von „Geschichte des Herzens“ unter Gebrauch der immer gleichen Worte dauernd um dasselbe Thema drehen, stellt sich ein Gefühl von Überdruss und Langeweile ein. Etwa so, wie wenn man erstmals einen Alcázar zu sehen bekommt, den man erst mal toll findet. Aber nach dem zehnten sehen alle irgendwie gleich aus.

Aleixandre hat sich mit folgenden Worten vehement dagegen gewehrt, als surrealistischer Dichter abgestempelt zu werden: Er sei nie überzeugt gewesen von der Möglichkeit automatischen Schreibens.

Aus heutiger Sicht müsste man widersprechen: Man füttere einen Computer, der über Künstliche Intelligenz verfügt, mit den Wörtern: Mond, Kuß, Meer, Zähne, Vogel, Brust, Wasser, Tod, Sonne, Liebe, Himmel, Lippen, Stein, Haut Schatten, Blut, Schlange, nackt, Stein, Licht, Knochen. Dann würden vermutlich Gedichte entstehen, die man für Werke von Aleixandre halten würde. Etwa so, wie dieser Auszug aus dem Gedicht Ewiges Geheimnis:

„O du allertraurigste Minute, da der geheimnisvolle Vogel, von dem ich nicht weiß, von dem niemand wohl weiß, woher er kommt,
sich flüchtet in die Brust jenes geküssten Kartons,
geküsst vom Mond, der lautlos vorbeizieht, wie ein langes Gewand oder unsichtbarer Duft.“

Die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, dass Aleixandre den Literatur-Nobelpreis vor allem bekam, damit die spanische Literatur in der noch kurzen Ära nach Francos Tod einen belebenden Impuls erhielt. Die Presse jubelte: „Endlich Anerkennung Spaniens als Kulturland.“ Sowie „eine Würdigung der neuen spanischen Demokratie“ oder „ein Wortführer der verlorenen Generation Spaniens. Von Vicente Alexandre und seiner Dichtkunst war da nur am Rande die Rede.

Von Wolfgang Zöllner

Foto: Cruccone (Eigenes Werk) [CC BY 3.0], via Wikimedia Commons

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